Überstundenzuschläge erst ab Überschreiten der Arbeitszeit Vollbeschäftigter diskriminieren Teilzeitbeschäftigte
Eine tarifvertragliche Regelung, die unabhängig von der individuellen Arbeitszeit für Überstundenzuschläge das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten voraussetzt, behandelt teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer wegen der Teilzeit schlechter als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte. Sie verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter (§ 4 Abs. 1 TzBfG), wenn die in ihr liegende Ungleichbehandlung nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Fehlen solche sachlichen Gründe, liegt regelmäßig zugleich eine gegen Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 7 Abs. 1 AGG) verstoßende mittelbare Benachteiligung wegen des (weiblichen) Geschlechts vor, wenn innerhalb der betroffenen Gruppe der Teilzeitbeschäftigten erheblich mehr Frauen als Männer vertreten sind.
So hat das Bundesarbeitsgericht kürzlich entschieden.
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Der Sachverhalt
Die Klägerin ist bei dem beklagten Verein, der ambulante Dialyse anbietet, als Pflegekraft in Teilzeit im Umfang von 40 vH eines Vollzeitbeschäftigten tätig. Der beklagte Verein beschäftigt mehr als 5.000 Arbeitnehmer.
Auf das Arbeitsverhältnis findet der zwischen dem beklagten Verein und der Gewerkschaft ver.di geschlossene Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung. Nach § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV sind Überstunden, die über die monatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden mit einem Zuschlag von 30 % zuschlagspflichtig, sofern sie nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können. Alternativ zu einer Auszahlung des Zuschlags ist eine entsprechende Zeitgutschrift im Arbeitszeitkonto vorgesehen.
Das Arbeitszeitkonto der Arbeitnehmerin wies Ende März 2018 ein Arbeitszeitguthaben von 129 Stunden und 24 Minuten aus. Ihr Arbeitgeber zahlte für diese Zeiten in Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV weder Überstundenzuschläge, noch gewährte er im Arbeitszeitkonto der Arbeitnehmerin eine Zeitgutschrift.
Die Arbeitnehmerin legte Klage beim Arbeitsgericht ein und verlangte, ihrem Arbeitszeitkonto als Überstundenzuschläge weitere 38 Stunden und 39 Minuten gutzuschreiben und die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe eines Vierteljahresverdienstes.
Sie trug vor, die Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV benachteilige sie wegen ihrer Teilzeit unzulässig gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten. Zugleich werde sie wegen ihres Geschlechts mittelbar benachteiligt, denn der Beklagte beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit.
Das Arbeitsgericht Fulda (Urteil vom 17. Januar 2019, 2 Ca 73/18) hat die Klage insgesamt abgewiesen. Das Hessische Landesarbeitsgericht (Urteil vom 19. Dezember 2019 – 5 Sa 436/19 –) hat der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift zuerkannt und hinsichtlich der begehrten Entschädigung die Klageabweisung bestätigt.
Die Klägerin legte dagegen Revision beim Bundesarbeitsgericht ein. Dieses setzte das Verfahren aber zunächst aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) den Fall zur Klärung der Auslegung des Unionsrechts vor. Dieser urteilte am 29. Juli 2024 (- C‑184/22 und C‑185/22 [KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation eV])
Die Entscheidung
Die Revision der Klägerin war teilweise erfolgreich. Das Bundesarbeitsgericht sprach der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift – in Übereinstimmung mit dem Landesarbeitsgericht – zu und erkannte ihr darüber hinaus eine Entschädigung in Höhe von 250,00 Euro zu. Auf der Grundlage des Urteils des EuGH sei davon auszugehen, dass § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV insoweit wegen Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten unwirksam ist, als er bei Teilzeitbeschäftigung keine der Teilzeitquote entsprechende anteilige Absenkung der Grenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags vorsieht. Einen sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung habe der Senat nicht erkennen können. Die sich aus dem Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG ergebende Unwirksamkeit der tarifvertraglichen Regelung der Überstundenzuschläge führe zu einem Anspruch der Klägerin auf die eingeklagte weitere Zeitgutschrift.
Daneben wurde der Klägerin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zuerkannt. Durch die Anwendung der tarifvertraglichen Regelung sei die Klägerin auch eine mittelbar wegen des Geschlechts benachteiligt worden. In der Gruppe der beim Beklagten in Teilzeit Beschäftigten, die dem persönlichen Anwendungsbereich des MTV unterfallen, seien zu mehr als 90 % Frauen vertreten. Als Entschädigung sei ein Betrag in Höhe von 250,00 Euro festzusetzen. Dieser sei erforderlich, aber auch ausreichend, um einerseits den der Klägerin durch die mittelbare Geschlechtsbenachteiligung entstandenen immateriellen Schaden auszugleichen. Andererseits entfalte er gegenüber dem Beklagten die gebotene abschreckende Wirkung.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 5. Dezember 2024 – 8 AZR 370/20 –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 5 Sa 436/19 –