Sperrzeit wenn ein Irrtum über den Punktestand grob fahrlässig zur Arbeitslosigkeit führt

Sperrzeit wenn ein Irrtum über den Punktestand grob fahrlässig zur Arbeitslosigkeit führt

12. September 2023 Arbeitslosengeld 0

Berufs­kraft­fahrer haben gegenüber ihrem Arbeit­geber die ungeschriebene arbeits­ver­trag­liche Neben­pflicht, jegliche Verkehrs­ver­stöße zu unter­lassen, die zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen können. Kann ein Berufs­kraft­fahrer, bei einfachster Betrachtung erkennen, dass ihm wegen eines weiteren Verkehrs­ver­stoßes und darauf folgender Überschreitung der Punkte­schwelle die Fahrerlaubnis entzogen wird und ihm daraus der Verlust seines Arbeits­platzes droht, ist dies als grob fahrlässig im Sinne des Rechts über die Sperrzeit anzusehen. Ein Irrtum darüber, dass ältere Punkte verfallen seien ist irrelevant.

So hat in diesem verkehrs­recht­lichen Fall mit arbeits­recht­lichem Kontext das Landes­so­zi­al­ge­richt Baden‐Württemberg entschieden.

(Landes­so­zi­al­ge­richt Baden‐Württemberg, Urteil vom 19. April 2023 – L 8 AL 1022/22 –)
 

Grundsätzliches

 

ungeschriebene Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis

Neben­pflichten sind über die Pflicht zur Arbeits­leistung hinaus­ge­hende Pflichten. Diese können im Arbeits­vertrag, Betriebs­ver­ein­ba­rungen oder Tarif­ver­trägen schriftlich festge­halten sein, ergeben sich aber auch aus Gesetzen ohne zwangs­läufig explizit nieder­ge­schrieben sein zu müssen.

Wichtige Neben­pflicht des Arbeit­gebers ist beispiels­weise die Fürsorgepflicht.

Bedeu­tendste Neben­pflicht des Arbeit­nehmers ist die sogenannte Treue­pflicht, die sich aus § 241 Abs. 2 BGB ableitet. Die Treue­pflicht ist eine erst einmal sehr abstrakte Pflicht, sich so zu verhalten, dass dem Arbeit­geber und dem Unter­nehmen kein Schaden an deren Rechts­gütern und Inter­essen entsteht und die eigenen vertrag­lichen Verpflich­tungen so zu erfüllen, wie es nach Treu und Glauben erwartet werden kann.

Das können Mittei­lungs­pflichten sein, Verschwie­gen­heits­pflichten, die Mitteilung voraus­sicht­licher Arbeits­aus­fall­zeiten, beispiels­weise aufgrund Schwan­ger­schaft oder Pflegezeit und auch das physische sowie recht­liche Erhalten der eigenen Arbeitsfähigkeit.

(Mehr zum Thema verhal­tens­be­dingte Kündigung bei Verstoß gegen Neben­pflichten können Sie hier lesen.)

 

grobe Fahrlässigkeit

Grobe Fahrläs­sigkeit liegt vor, wenn der Eintritt eines Schadens durch einfache und nahelie­gendes, sorgfäl­tiges Verhalten hätte verhindert werden können und dieses in besonders schwerem Maße außer Acht gelassen wurde. Ein möglicher Schaden wird in Kauf genommen. 

 

Sperrzeit

Gemäß § 159 Abs. 1 Satz 1 des Dritten Buches des Sozial­ge­setz­buches (SGB III) ruht der Anspruch für die Dauer einer Sperrzeit, wenn die Arbeit­neh­merin oder der Arbeit­nehmer sich versi­che­rungs­widrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Versi­che­rungs­wid­riges Verhalten liegt gemäß § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III vor, wenn die oder der Arbeitslose das Beschäf­ti­gungs­ver­hältnis gelöst oder durch ein arbeits­ver­trags­wid­riges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeits­lo­sigkeit herbei­ge­führt hat

 

Überliegefrist

Für Verkehrs­ver­stöße im Fahreig­nungs­re­gister einge­tragene Punkte, werden nach Ablauf bestimmter Fristen getilgt. Wie lange das dauert hängt davon ab, wie viele Punkte es für den jewei­ligen Verstoß gab. Gab es einen Punkt, beträgt die Tilgungs­frist 2,5 Jahre, bei 2 Punkte 5 Jahre und bei 3 Punkten 10 Jahre.

Zusätzlich zu diesen Tilgungs­fristen kommt noch die sogenannte Überlie­ge­frist von einem Jahr. Das bedeutet, das Kraft­fahrt­bun­desamt kann die gelöschten Punkte noch 1 Jahr lang sehen. Hinter­grund dieser Verfah­rens­weise ist, dass Punkte für den Tag des Verkehrs­ver­stoßes einge­tragen werden. Aller­dings er rückwirkend dann, wenn der Verkehrs­verstoß rechts­kräftig festge­stellt wurde. Durch Wider­spruch gegen den Bußgeld­be­scheid und ein eventu­elles Klage­ver­fahren kann sich die rechts­kräftige Feststellung verzögern. Die Überlie­ge­frist soll es dem Kraft­fahrt­bun­desamt rechts­kräf­tiger Feststellung ermög­lichen, im Regelfall rückwirkend feststellen zu können, ob zum Tatzeit­punkt durch den weiteren Verstoß die 8‑Punktegrenze überschritten wurde.

 

Zum Fall

Der klagende Arbeit­nehmer war bei einem Trans­port­un­ter­nehmen als Berufs­kraft­fahrer beschäftigt. Ihm wurde aufgrund eines erneuten Verkehrs­ver­stoßes und der darin begrün­deten Überschreitung der 8‑Punkte‐Schwelle, die Fahrerlaubnis für mindestens 6 Monate entzogen. Das Arbeits­ver­hältnis wurde ihm daraufhin im Januar 2021 gekündigt, da er ohne gültige Fahrerlaubnis seinen Beruf nicht ausüben könne.

Der Arbeit­nehmer zeigte der Agentur für Arbeit seine Arbeits­lo­sigkeit an und beantragte Arbeits­lo­sengeld. Die Agentur für Arbeit verhängte mit Bescheid vom 25.02.2021 wegen Arbeits­aufgabe eine Sperrzeit für sechs Wochen und bewil­ligte Arbeits­lo­sengeld erst im Anschluss ab 26.04.2021. Er habe damit rechnen müssen, dass er nach einem weiteren Verkehrs­verstoß seine Tätigkeit nicht mehr ausüben könne. 

Der Arbeit­nehmer legte mit Schreiben vom 08.03.2021 gegen die Verhängung der Sperrzeit Wider­spruch ein. § 159 SGB III setze ein vorsätz­liches oder grob fahrläs­siges Handeln voraus, welches aber in seinem Fall nicht gegeben gewesen sei. Alle Punkte seien verkehrs­be­dingt und ohne grobe Fahrläs­sigkeit zustande gekommen.

Zudem sei er davon ausge­gangen, dass er noch keine 8 Punkte erreicht habe, weil kurz vor seinem 8‑Punkte‐Bescheid 1 Punkt verfallen sei. Was er jedoch nicht gewusst habe war, dass es eine Überlie­ge­frist gäbe, in der die verfal­lenen Punkte noch ein Jahr im Hinter­grund stehen bleiben würden und beim Erreichen der 8 Punkte heran­ge­zogen werden dürften. Eine Sperrzeit gefährde seine Existenz. Sein Arbeit­geber würde ihn nach Erhalt der Fahrerlaubnis sofort wieder­ein­stellen. (Der Kläger wurde übrigens wirklich ab dem 20.10.2021 bei seiner Firma eingestellt.)

Die Agentur für Arbeit wies den Wider­spruch als unbegründet zurück. Er habe damit rechnen müssen, dass er nach einem weiteren Verkehrs­verstoß seine Tätigkeit nicht mehr ausüben könne. 

 

Die Vorinstanz zur Sperrzeit

Dagegen erhob der Arbeit­nehmer Klage beim Sozial­ge­richt Stuttgart. Dieses wies die Klage ab. (SG Stuttgart, 14. März 2022, S 16 AL 1022/22 – ) Der Kläger habe gegen arbeits­ver­trag­liche Neben­pflichten verstoßen. Auch ohne explizite Klauseln im Arbeits­vertrag sei der Besitz einer Fahrerlaubnis und die Einhaltung der Verkehrs­regeln nach der Recht­spre­chung des Bundes­so­zi­al­ge­richts bei Berufs­kraft­fahrern Geschäfts­grundlage des Arbeits­ver­trages. Daraus ergebe sich eine ungeschriebene Neben­pflicht, alles zu unter­lassen, was zum Verlust des Führer­scheins führen könnte.

Der Arbeits­vertrag des Klägers sei gekündigt worden, weil die notwendige Voraus­setzung für seine Tätigkeit als Kraft­fahrer mit dem Verlust der Fahrerlaubnis nicht mehr vorge­legen habe. Im Übrigen sei der Hinweis auf die Überlie­ge­frist unbeachtlich, da der erste ältere Punkt erst nach dem Verstoß zu tilgen war und die Überlie­ge­frist erst ab diesem Zeitpunkt beginne.

 

Die Entscheidung über die Sperrzeit

Das Landes­so­zi­al­ge­richt wies die hiergegen gerichtete Berufung als unbegründet zurück.

Das Sozial­ge­richt habe ausführlich und schlüssig dargelegt, dass die Voraus­set­zungen für eine Sperrzeit erfüllt seien.

Der Kläger habe sich vertrags­widrig verhalten und Anlass für das Lösen des Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nisses gegeben und dadurch grob fahrlässig seine Arbeits­lo­sigkeit herbeigeführt.

Nach der Recht­spre­chung des Bundes­so­zi­al­ge­richts würden Berufs­kraft­fahrer der ungeschrie­benen arbeits­ver­trag­lichen Neben­pflicht unter­liegen, sich während ihrer Berufs­aus­übung im Straßen­verkehr untadelig zu verhalten. Ein Berufs­kraft­fahrer könne seine arbeits­ver­traglich geschuldete Arbeit nur verrichten, wenn er im Besitz der Fahrerlaubnis sei und bliebe. Das Vorhan­densein der Fahrerlaubnis sei entspre­chend Geschäfts­grundlage des Arbeits­ver­trages. Den Arbeit­nehmer treffe die arbeits­ver­trag­liche Neben­pflicht, jegliche Verkehrs­ver­stöße zu unter­lassen, die zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen könnten. Gegen diese Neben­pflicht habe der Kläger verstoßen. Bei einfachster Betrachtung sei für einen Berufs­kraft­fahrer erkennbar, dass ihm bei einem weiteren Verkehrs­verstoß wegen Überschreitung der Schwelle von Punkten im Verkehrs­zen­tral­re­gister die Fahrerlaubnis entzogen werden könnte und infol­ge­dessen der Verlust des Arbeits­platz drohe. Insofern sei sein arbeits­ver­trags­wid­riges Verhalten grob fahrlässig im Hinblick auf die Herbei­führung seiner Arbeitslosigkeit.

Ein Irrtum bezüglich der Überlie­ge­frist und darüber, dass ältere Punkte noch nicht gelöscht waren, führe nicht zum Erlöschen der groben Fahrläs­sigkeit. Es zeige vielmehr, dass sich der Kläger der Tragweite weiterer Verstöße durchaus bewusst gewesen sei, jedoch irrig davon ausging, sich noch weitere Verstöße erlauben zu können.

 

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