Sperrzeit wenn ein Irrtum über den Punktestand grob fahrlässig zur Arbeitslosigkeit führt
Berufskraftfahrer haben gegenüber ihrem Arbeitgeber die ungeschriebene arbeitsvertragliche Nebenpflicht, jegliche Verkehrsverstöße zu unterlassen, die zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen können. Kann ein Berufskraftfahrer, bei einfachster Betrachtung erkennen, dass ihm wegen eines weiteren Verkehrsverstoßes und darauf folgender Überschreitung der Punkteschwelle die Fahrerlaubnis entzogen wird und ihm daraus der Verlust seines Arbeitsplatzes droht, ist dies als grob fahrlässig im Sinne des Rechts über die Sperrzeit anzusehen. Ein Irrtum darüber, dass ältere Punkte verfallen seien ist irrelevant.
So hat in diesem verkehrsrechtlichen Fall mit arbeitsrechtlichem Kontext das Landessozialgericht Baden‐Württemberg entschieden.
Grundsätzliches
ungeschriebene Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis
Nebenpflichten sind über die Pflicht zur Arbeitsleistung hinausgehende Pflichten. Diese können im Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen schriftlich festgehalten sein, ergeben sich aber auch aus Gesetzen ohne zwangsläufig explizit niedergeschrieben sein zu müssen.
Wichtige Nebenpflicht des Arbeitgebers ist beispielsweise die Fürsorgepflicht.
Bedeutendste Nebenpflicht des Arbeitnehmers ist die sogenannte Treuepflicht, die sich aus § 241 Abs. 2 BGB ableitet. Die Treuepflicht ist eine erst einmal sehr abstrakte Pflicht, sich so zu verhalten, dass dem Arbeitgeber und dem Unternehmen kein Schaden an deren Rechtsgütern und Interessen entsteht und die eigenen vertraglichen Verpflichtungen so zu erfüllen, wie es nach Treu und Glauben erwartet werden kann.
Das können Mitteilungspflichten sein, Verschwiegenheitspflichten, die Mitteilung voraussichtlicher Arbeitsausfallzeiten, beispielsweise aufgrund Schwangerschaft oder Pflegezeit und auch das physische sowie rechtliche Erhalten der eigenen Arbeitsfähigkeit.
(Mehr zum Thema verhaltensbedingte Kündigung bei Verstoß gegen Nebenpflichten können Sie hier lesen.)
grobe Fahrlässigkeit
Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Eintritt eines Schadens durch einfache und naheliegendes, sorgfältiges Verhalten hätte verhindert werden können und dieses in besonders schwerem Maße außer Acht gelassen wurde. Ein möglicher Schaden wird in Kauf genommen.
Sperrzeit
Gemäß § 159 Abs. 1 Satz 1 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) ruht der Anspruch für die Dauer einer Sperrzeit, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer sich versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Versicherungswidriges Verhalten liegt gemäß § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III vor, wenn die oder der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat
Überliegefrist
Für Verkehrsverstöße im Fahreignungsregister eingetragene Punkte, werden nach Ablauf bestimmter Fristen getilgt. Wie lange das dauert hängt davon ab, wie viele Punkte es für den jeweiligen Verstoß gab. Gab es einen Punkt, beträgt die Tilgungsfrist 2,5 Jahre, bei 2 Punkte 5 Jahre und bei 3 Punkten 10 Jahre.
Zusätzlich zu diesen Tilgungsfristen kommt noch die sogenannte Überliegefrist von einem Jahr. Das bedeutet, das Kraftfahrtbundesamt kann die gelöschten Punkte noch 1 Jahr lang sehen. Hintergrund dieser Verfahrensweise ist, dass Punkte für den Tag des Verkehrsverstoßes eingetragen werden. Allerdings er rückwirkend dann, wenn der Verkehrsverstoß rechtskräftig festgestellt wurde. Durch Widerspruch gegen den Bußgeldbescheid und ein eventuelles Klageverfahren kann sich die rechtskräftige Feststellung verzögern. Die Überliegefrist soll es dem Kraftfahrtbundesamt rechtskräftiger Feststellung ermöglichen, im Regelfall rückwirkend feststellen zu können, ob zum Tatzeitpunkt durch den weiteren Verstoß die 8‑Punktegrenze überschritten wurde.
Zum Fall
Der klagende Arbeitnehmer war bei einem Transportunternehmen als Berufskraftfahrer beschäftigt. Ihm wurde aufgrund eines erneuten Verkehrsverstoßes und der darin begründeten Überschreitung der 8‑Punkte‐Schwelle, die Fahrerlaubnis für mindestens 6 Monate entzogen. Das Arbeitsverhältnis wurde ihm daraufhin im Januar 2021 gekündigt, da er ohne gültige Fahrerlaubnis seinen Beruf nicht ausüben könne.
Der Arbeitnehmer zeigte der Agentur für Arbeit seine Arbeitslosigkeit an und beantragte Arbeitslosengeld. Die Agentur für Arbeit verhängte mit Bescheid vom 25.02.2021 wegen Arbeitsaufgabe eine Sperrzeit für sechs Wochen und bewilligte Arbeitslosengeld erst im Anschluss ab 26.04.2021. Er habe damit rechnen müssen, dass er nach einem weiteren Verkehrsverstoß seine Tätigkeit nicht mehr ausüben könne.
Der Arbeitnehmer legte mit Schreiben vom 08.03.2021 gegen die Verhängung der Sperrzeit Widerspruch ein. § 159 SGB III setze ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Handeln voraus, welches aber in seinem Fall nicht gegeben gewesen sei. Alle Punkte seien verkehrsbedingt und ohne grobe Fahrlässigkeit zustande gekommen.
Zudem sei er davon ausgegangen, dass er noch keine 8 Punkte erreicht habe, weil kurz vor seinem 8‑Punkte‐Bescheid 1 Punkt verfallen sei. Was er jedoch nicht gewusst habe war, dass es eine Überliegefrist gäbe, in der die verfallenen Punkte noch ein Jahr im Hintergrund stehen bleiben würden und beim Erreichen der 8 Punkte herangezogen werden dürften. Eine Sperrzeit gefährde seine Existenz. Sein Arbeitgeber würde ihn nach Erhalt der Fahrerlaubnis sofort wiedereinstellen. (Der Kläger wurde übrigens wirklich ab dem 20.10.2021 bei seiner Firma eingestellt.)
Die Agentur für Arbeit wies den Widerspruch als unbegründet zurück. Er habe damit rechnen müssen, dass er nach einem weiteren Verkehrsverstoß seine Tätigkeit nicht mehr ausüben könne.
Die Vorinstanz zur Sperrzeit
Dagegen erhob der Arbeitnehmer Klage beim Sozialgericht Stuttgart. Dieses wies die Klage ab. (SG Stuttgart, 14. März 2022, S 16 AL 1022/22 – ) Der Kläger habe gegen arbeitsvertragliche Nebenpflichten verstoßen. Auch ohne explizite Klauseln im Arbeitsvertrag sei der Besitz einer Fahrerlaubnis und die Einhaltung der Verkehrsregeln nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bei Berufskraftfahrern Geschäftsgrundlage des Arbeitsvertrages. Daraus ergebe sich eine ungeschriebene Nebenpflicht, alles zu unterlassen, was zum Verlust des Führerscheins führen könnte.
Der Arbeitsvertrag des Klägers sei gekündigt worden, weil die notwendige Voraussetzung für seine Tätigkeit als Kraftfahrer mit dem Verlust der Fahrerlaubnis nicht mehr vorgelegen habe. Im Übrigen sei der Hinweis auf die Überliegefrist unbeachtlich, da der erste ältere Punkt erst nach dem Verstoß zu tilgen war und die Überliegefrist erst ab diesem Zeitpunkt beginne.
Die Entscheidung über die Sperrzeit
Das Landessozialgericht wies die hiergegen gerichtete Berufung als unbegründet zurück.
Das Sozialgericht habe ausführlich und schlüssig dargelegt, dass die Voraussetzungen für eine Sperrzeit erfüllt seien.
Der Kläger habe sich vertragswidrig verhalten und Anlass für das Lösen des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch grob fahrlässig seine Arbeitslosigkeit herbeigeführt.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts würden Berufskraftfahrer der ungeschriebenen arbeitsvertraglichen Nebenpflicht unterliegen, sich während ihrer Berufsausübung im Straßenverkehr untadelig zu verhalten. Ein Berufskraftfahrer könne seine arbeitsvertraglich geschuldete Arbeit nur verrichten, wenn er im Besitz der Fahrerlaubnis sei und bliebe. Das Vorhandensein der Fahrerlaubnis sei entsprechend Geschäftsgrundlage des Arbeitsvertrages. Den Arbeitnehmer treffe die arbeitsvertragliche Nebenpflicht, jegliche Verkehrsverstöße zu unterlassen, die zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen könnten. Gegen diese Nebenpflicht habe der Kläger verstoßen. Bei einfachster Betrachtung sei für einen Berufskraftfahrer erkennbar, dass ihm bei einem weiteren Verkehrsverstoß wegen Überschreitung der Schwelle von Punkten im Verkehrszentralregister die Fahrerlaubnis entzogen werden könnte und infolgedessen der Verlust des Arbeitsplatz drohe. Insofern sei sein arbeitsvertragswidriges Verhalten grob fahrlässig im Hinblick auf die Herbeiführung seiner Arbeitslosigkeit.
Ein Irrtum bezüglich der Überliegefrist und darüber, dass ältere Punkte noch nicht gelöscht waren, führe nicht zum Erlöschen der groben Fahrlässigkeit. Es zeige vielmehr, dass sich der Kläger der Tragweite weiterer Verstöße durchaus bewusst gewesen sei, jedoch irrig davon ausging, sich noch weitere Verstöße erlauben zu können.