Beweiswert der Krankschreibung während einer Kündigung
Zur Frage, ob ein Arbeitnehmer dennoch Entgeltfortzahlung erhalten kann, wenn seine Krankschreibung passgenau die Kündigungsfrist ausfüllt.
Wenn sich ein Arbeitnehmer bei Erhalt einer Kündigung unmittelbar zeitlich nachfolgend krankmeldet und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht, kann dies den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern. Insbesondere dann, wenn die Krankschreibung den gesamten Zeitraum der Kündigungsfrist abdeckt. Dieser Kausalzusammenhang zwischen Kündigung und Krankschreibung fehlt aber, wenn der Arbeitnehmer sich bereits vor Erhalt der Kündigung krank gemeldet hat.
Deckt diese Krankmeldung jedoch nur einen Teil der Kündigungsfrist ab, folgen dann unmittelbar eine oder mehrere Folgebescheinigungen, die passgenau die Kündigungsfrist ausfüllen und erbringt der Arbeitnehmer einen Tag nach Beendigung seines Arbeitsverhältnis seine Arbeitsleistung bei einem neuen Arbeitgeber, kann der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung doch erschüttert sein.
In diesem Sinne hat das Bundesarbeitsgericht jetzt auf die Revision gegen ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen entschieden.
Grundsätzliches
Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Krankschreibung)
Ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wird ein hoher, sogenannter „normativer“ Beweiswert zugemessen. Dies wird aus den § 5 und § 7 des Entgeltfortzahlungsgesetzes gefolgert. Wenn ein Arbeitnehmer eine solche Bescheinigung vorlegt, hat er seine arbeitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bewiesen. Der Arbeitgeber muss dann Tatsachen vorlegen, die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung begründen und so den Beweiswert der Krankschreibung erschüttern. Gelingt ihm das, müsste wiederum der Arbeitnehmer Tatsachen vortragen, die beweisen, dass er tatsächlich krank war. Er müsste dann vortragen, welche Krankheit er hatte und wie sich dies auf seine Arbeitsfähigkeit ausgewirkt hat.
Das Bundesarbeitsgericht hat das zeitliche Zusammenfallen von Kündigung und Krankheit (Koinzidenz) als ausreichenden Umstand zur Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angesehen.
Wird ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis kündigt, am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.
(BAG, Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 –)
(Mehr zur elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können Sie hier und zu ihrem Beweiswert hier lesen.)
Zum Sachverhalt
Der Kläger war als Arbeitnehmer bei einem Leiharbeitsunternehmen über ein Jahr angestellt, wurde aber seit mehreren Wochen nicht verliehen. Er meldete sich am 2.5.2022 arbeitsunfähig krank. Einen Tag später erhielt er die Kündigung zum Monatsende zugestellt. Das Kündigungsschreiben war auf den 2.5.2022 datiert. Der Arbeitnehmer legte der Arbeitgeberin daraufhin am 6.5.2022 und am 20.5.2022 zwei weitere ärztliche Krankschreibungen vor, die ihm die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bis zum 31.5.2022, also dem genauen Ende des Arbeitsverhältnisses, bescheinigten.
Die Arbeitgeberin zweifelte die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit an, da diese zeitgleich mit der Kündigung erfolgt sei und passgenau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses angedauert habe. Diese Koinzidenz (Zusammenhang) zwischen der Kündigung und der Krankschreibung begründe ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit. Zudem sei der Kläger unmittelbar nach Ende des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig gewesen und habe nahtlos bei einem anderen Arbeitgeber ein neues Arbeitsverhältnis begonnen. Die Arbeitgeberin verweigerte daher die Lohnfortzahlung.
Dagegen klagte der Arbeitnehmer und verlangte die Lohnfortzahlung. Die Beklagte Arbeitgeberin habe ihm erst auf seine Krankmeldung folgend die Kündigung ausgesprochen. Er sei also bereits einen Tag vor der Kündigung krankgeschrieben gewesen. Der Beweiswert der Krankschreibung sei daher nicht erschüttert.
Der Verfahrensgang
Das Arbeitsgericht Hildesheim, (26. Oktober 2022, 2 Ca 190/22) gab der Klage statt, da es den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert sah.
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
Das Landesarbeitsgericht sah dies ebenfalls so und bejahte einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hätten einen hohen Beweiswert und seien nicht erschüttert worden.
Erschütterung bei Koinzidenz zwischen Kündigung und Krankschreibung grundsätzlich möglich
Das Landesarbeitsgericht folgte der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes, indem es ärztlich ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen als das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Beweismittel für einen krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ansah. Daraus ergebe sich der besonders hohe Beweiswert dieser Bescheinigungen. Der Arbeitgeber müsse den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er Tatsachen vorbringe, die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen würden. Dann träte wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestanden habe. Der Arbeitnehmer müsse dann wiederum beweisen, dass eine Erkrankung während der Zeit der Krankschreibung bestanden habe.
Grundsätzlich sei nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes eine zeitliche Koinzidenz, also ein zeitlicher Zusammenhang zwischen einer Kündigung durch den Arbeitnehmer und seiner passgenauen Krankschreibung für die Zeit der Kündigungsfrist geeignet, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.
Andere Fallkonstellation: Krankschreibung vor Kündigung
Jedoch seien im vorliegenden Fall relevante Unterschiede zu berücksichtigen.
So habe hier nicht der Arbeitnehmer die Kündigung ausgesprochen, wie im dem durch das Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall. Hier sei es genau umgekehrt gewesen.
Entscheidend sei aber, dass die erste Krankschreibung bereits vor der Kündigung erfolgt sei. Dadurch entfiele der notwendige Kausalzusammenhang zwischen Krankmeldung und Kündigung, der erforderlich sei, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Der Arbeitnehmer sei nicht erst durch die Kündigung dazu motiviert worden, einen Arzt aufzusuchen und sich krankschreiben zu lassen. Somit bestünde hier keine zeitliche Koinzidenz des Beginns der Arbeitsunfähigkeit mit einer Eigenkündigung.
Auch keine weiteren Umstände ersichtlich
Allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben sei, am unmittelbar darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginne, erschüttere in der Regel ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht. Es sei zwar denkbar, dass der Arbeitnehmer bereits vor seiner Krankschreibung gewusst haben könnte, dass seine Arbeitgeberin plante, ihm den Arbeitsvertrag zu kündigen oder dies angekündigt war. Dies habe die Arbeitgeberin jedoch nicht vorgetragen und bewiesen.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes
Letzteres sah das Bundesarbeitsgericht aber bezogen auf den Zeitraum vom 7. bis zum 31 Mai 2022 anders und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht Niedersachsen zurück.
Das Landesarbeitsgericht sei zutreffend davon ausgegangen, dass es bei der Prüfung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht darauf ankomme, ob die Kündigung durch den Arbeitgeber oder durch den Arbeitnehmer erfolge. Es komme auch nicht darauf an, ob nur eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden.
Stets sei eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände vorzunehmen.
Keine Koinzidenz bei 1. Krankschreibung
Das Bundesarbeitsgericht sieht ebenfalls den Beweiswert der Bescheinigung für den 2. Mai 2022 nicht erschüttert. Eine zeitliche Koinzidenz zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und dem Zugang der Kündigung sei nicht gegeben. Denn nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichtes habe der Kläger zum Zeitpunkt der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Kenntnis von der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses gehabt.
Aber Koinzidenz durch passgenaue Folgebescheinigungen
Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. Mai 2022 und 20. Mai 2022 sieht das Bundesarbeitsgericht hingegen erschüttert. Das Landesarbeitsgericht habe hierbei nicht ausreichend berücksichtigt, dass zwischen der durch die Folgebescheinigungen passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist doch eine Koinzidenz zu sehen sei.
Auch dass der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen habe sei zu berücksichtigen.
Bei der Würdigung dieses Sachverhalts habe das Landesarbeitsgericht nicht in den Blick genommen, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch die Bescheinigungen vom 2. Mai 2022 und vom 6. Mai 2022 jeweils bis zu einem Freitag erfolgte, dagegen in der Bescheinigung vom 20. Mai 2022 Arbeitsunfähigkeit bis Dienstag, den 31. Mai 2022 und damit passgenau bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses attestiert wurde und der Kläger am 1. Juni 2022 eine neue Beschäftigung aufgenommen hat.
Da der Kläger zum Zeitraum der Ausstellung der 2. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits von der Kündigung wusste, sei nicht ausgeschlossen, dass er durch die Kündigung motiviert wurde eine weitere Krankschreibung zu erreichen.
Zudem habe das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt, wie der Arzt die Erkrankung des Klägers diagnostiziert hat und weshalb die Erkrankung des Klägers gut und zweifelsfrei feststellbar gewesen sei.
Beweislast nun wieder bei Kläger
Dadurch trage nunmehr der Kläger für den Zeitraum vom 7. bis zum 31. Mai die volle Darlegungs‐ und Beweisbelast, seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nachzuweisen.
Da das Landesarbeitsgericht zu diesem Zeitraum keine Feststellungen getroffen habe, sei die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen, um den Parteien Gelegeheit zu geben, weiter zur behaupteten Arbeitsunfähigkeit des Klägers vorzutragen.
Fazit
Ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben einen hohen Beweiswert. Dieser kann erschüttert werden, wenn ein Zusammenhang zwischen der Kündigung und der passgenauen Krankschreibung gesehen werden kann.
Das Landesarbeitsgericht schloß sich grundsätzlich der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes an, hat aber relevante Unterschiede im Sachverhalt gesehen und daher anders entschieden als das Bundesarbeitsgericht in seiner früheren Entscheidung.
Das Bundesarbeitsgericht differenzierte in seiner jetzigen Entscheidung aber noch weiter zwischen der Wirkung der einzelnen Krankschreibungen und wertete zudem die wiederhergestellte Arbeitsfähigkeit am Tag nach der Kündigungsfrist.