Keine Entgeltfortzahlung bei Fortsetzungserkrankung
Wird ein Arbeitnehmer, der für die Dauer von sechs Wochen Entgeltfortzahlung erhalten hat infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, verliert er den Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Behauptet der Arbeitnehmer, dass die neue Erkrankung keine Folgeerkrankung ist, gilt eine abgestufte Darlegungslast. Bestreitet der Arbeitgeber, dass eine neue Erkrankung vorliegt, muss der Arbeitnehmer Tatsachen vortragen, die den Schluss erlauben, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt. Der Verweis des Arbeitnehmers auf den Diagnoseschlüssel der jeweiligen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reicht nicht aus, eine Fortsetzungserkrankung auszuschließen. Gegebenenfalls muss ein Arbeitnehmer zur weiteren Aufklärung die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden.
In diesem Sinne hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 18.1.23 entschieden.
table of contents
- Grundsätzliches
- Zum Fall
- Der Sachverhalt
- Verfahrensgang
- Die Entscheidung
- keine Entgeltfortzahlung bei Fortsetzungserkrankung
- Abgestufte Beweislast in Frage der Fortsetzungserkrankung
- Offenlegung der Gesundheitsdaten zur Überprüfung ob eine Fortsetzungserkrankung vorliegt verhältnismäßig
- keine geheimen Verfahren
- konkreter, substantiierter Vortrag, ob Fortsetzungserkrankung vorliegt, notwendig
Grundsätzliches
Entgeltfortzahlung
Gemäß § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) hat ein Arbeitnehmer nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von 6 Wochen, wenn er infolge einer Krankheit an seiner Arbeitsleistung gehindert ist. Wird er infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, verliert er diesen Anspruch, es sei denn,
- zwischen den Zeiten der Arbeitsunfähigkeiten liegen mindestens 6 Monate
- oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit sind mindestens 12 Monate vergangen.
Fortsetzungserkrankung
Eine Fortsetzungserkrankung liegt vor, wenn dieselbe Krankheit Ursache für die erneute Arbeitsunfähigkeit ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein identisches Krankheitsbildbesteht oder auch wenn die Krankheitssymptome auf demselben Grundleiden beruhen, welches nicht ausgeheilt ist und dadurch latent weiterbesteht.
Abgestufte Beweislast
Ist der Arbeitnehmer länger als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt, muss er darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt. Soweit dies nicht aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hervorgeht, muss beispielsweise eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt werden, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt. (Mehr zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können Sie hier lesen.)
Bestreitet der Arbeitgeber das Vorliegen einer neuen Krankheit, obliegt es wiederum dem Arbeitnehmer Tatsachen darzulegen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung vorgelegen. Inhaltlich muss genau dargelegt werden, welche Beschwerden und Einschränkungen zu welchem Zeitpunkt bestanden haben. Diese Erläuterungen müssen sich genau auf den maßgeblichen Vorzeitraum beziehen. Ist dies erfolgt, muss der Arbeitgeber den Gegenbeweis führen.
Zum Fall
Der Sachverhalt
Ein Arbeitnehmer arbeitete seit Januar 2012 bei einem Unternehmen für Bodendienstleistungen am Flughafen in der Gepäckabfertigung. Er war ab dem August 2019 an 68 Kalendertagen und im Jahr 2020 bis August 2020 an 42 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt.
Seine Arbeitgeberin leistete bis zum 18. August 2020 Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG.
Der Arbeitnehmer wollte aber auch für 10 weitere Arbeitstage (71,2 Stunden) Entgeltfortzahlung haben und klagte vor dem Arbeitsgericht Frankfurt.
Er legte mehrere Erstbescheinigungen vor und trug vor, welche ICD‐10Codes mit welchen korrespondierenden Diagnosen oder Symptomen in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgeführt gewesen seien. Zu etwaigen Vorerkrankungen machte er Angaben zu Arbeitsunfähigkeitszeiten, die nach seiner Einschätzung auf den selben Diagnosen oder Symptomen beruhten.
Schließen Erstbescheinigungen Fortsetzungserkrankung aus?
Der Arbeitnehmer war der Ansicht, dass er aus Datenschutzgründen nicht verpflichtet werden könne, sämtliche Erkrankungen aus der davorliegenden Zeit offenzulegen. Da er für den streitgegenständlichen Zeitraum Erstbescheinigungen vorgelegt habe, sei daraus zu ersehen, dass Vorerkrankungen nicht vorgelegen hätten. Er müsse sich nicht zu vorhergehenden Atemwegserkrankungen äußern, weil nicht „dieselbe Erkrankung“ im Sinne des § 3 Abs. 1 EZFG vorliegen könne. [Die Symptome der Erkrankung des streitgegenständlichen Zeitraumes waren anders. (Anmerkung des Verfassers)]. Insofern sei für keine der Erkrankungen aus dem streitgegenständlichen Zeitraum der Sechs‐Wochen‐Zeitraum des EZFG ausgeschöpft.
Das sah seine Arbeitgeberin anders. Für den streitgegenständlichen Zeitraum hätten anrechenbare Vorerkrankungen vorgelegen, die eine Verpflichtung zur weiterer Entgeltfortzahlung ausschlössen. Der Kläger leide an einem chronischen Defizit der körpereigenen Abwehrkräfte leide, was dazu führe, dass er immer wieder an Infektionen der oberen Atemwege bzw. an Erkältungsschnupfen leide. Dieses Krankheitsbild führe auch zu anderen körperlichen Beeinträchtigungen.
Verfahrensgang
Das Arbeitsgericht Frankfurt (9. Juni 2021, 14 Ca 9427/20) gab dem Kläger recht, das Hessische Landesarbeitsgericht (Urteil vom 14. Januar 2022 – 10 Sa 898/21 –) gab dagegen der Berufung der Beklagten statt, änderte das Urteil des Arbeitsgerichts und wies die Klage ab. die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei nicht ausreichend, weil sie keine Angaben zum Bestehen einer Fortsetzungserkrankung enthalte. Der Arbeitnehmer müsse deshalb darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliege.
Die Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht wies die dagegen eingelegte Revision als erfolglos zurück.
keine Entgeltfortzahlung bei Fortsetzungserkrankung
Der klagende Arbeitnehmer habe keinen Anspruch auf weitere Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Denn wenn ein Arbeitnehmer infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig werde, verliere er wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit den Entgeltfortzahlungsanspruch für einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Wochen nur dann nicht, wenn er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig gewesen sei oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen sei.
Abgestufte Beweislast in Frage der Fortsetzungserkrankung
Wenn der Arbeitnehmer länger als sechs Wochen arbeitsunfähig sei, gelte eine abgestufte Darlegungs‐ und Beweislast. Zunächst müsse der Arbeitnehmer beweisen, dass keine Fortsetzungserkrankung bestehe, beispielsweise durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung. Wenn der Arbeitgeber bestreitet, dass eine neue Erkrankung vorliege, müsse der Arbeitnehmer Tatsachen vortragen, die den Schluss erlauben, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliege.
Dazu müsse er die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden. Denn erst ausgehend von diesem Vortrag sei regelmäßig dem Arbeitgeber substantiierter Sachvortrag möglich. Auf das Bestreiten des Arbeitgebers genüge die bloße Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nicht mehr. Auch als Erstbescheinigung könne eine ärztliche Bescheinigung eine Fortsetzungserkrankung nicht ausschließen.
Offenlegung der Gesundheitsdaten zur Überprüfung ob eine Fortsetzungserkrankung vorliegt verhältnismäßig
Die Offenlegung der Gesundheitsdaten sei ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG. Dieser sei aber verhältnismäßig und damit gerechtfertigt, da der legitime Zweck einer materiell richtigen Entscheidung verfolgt werde. Denn nur wenn die der Arbeitsunfähigkeit zugrundeliegenden Beschwerden offengelegt seien, könne überprüft werden, ob der Arbeitnehmer an einer Fortsetzungserkrankung gelitten habe. Nur auf diese Art und Weise könne effektiver Rechtsschutz gewährt werden und das rechtliche Gehör der Gegenseite gesichert werden.
Diese Verteilung der Darlegungs‐ und Beweislast zum Nachweis einer Fortsetzungserkrankung sei auch vereinbar mit dem EU‐Recht.
Die Einschätzung einer Krankenkasse nach § 69 Abs. 4 SGB X über das Nichtvorliegen einer Fortsetzungserkrankung ermögliche keine genügende Kontrolle, weswegen Arbeitsgerichte und Arbeitgeber nicht an diese gebunden seien.
keine geheimen Verfahren
Eine eingeschränkte Offenlegung der Ursachen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten das Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung nur gegenüber dem Gericht oder Sachverständigen scheide aus, da derart „geheime Verfahren“ gegen das Rechtsstaatsprinzip verstießen. Es bestünde zudem auch die Möglichkeit, bei der Erörterung von Krankheitsursachen die Öffentlichkeit auszuschließen.
konkreter, substantiierter Vortrag, ob Fortsetzungserkrankung vorliegt, notwendig
Im vorliegenden Fall habe der klagende Arbeitnehmer nicht substantiiert genug vorgetragen. Ein bloßer Verweis auf den Diagnoseschlüssel nach der ICD‐10 Klassifikation der jeweiligen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reiche nicht aus. Ohne einen konkreten Vortrag dazu, welche gesundheitlichen Einschränkungen und Beschwerden bestanden hätten, ließe sich nicht beurteilen, ob eine Fortsetzungserkrankung in Betracht komme.