Vermutungswirkung § 125 InsO bei geplanter Betriebsänderung

Vermutungswirkung § 125 InsO bei geplanter Betriebsänderung

23. August 2023 Kündigung Massenentlassung 0

Ist bei einer geplanten Betriebs­än­derung zwischen dem Insol­venz­ver­walter und dem Betriebsrat ein Inter­es­sens­aus­gleich mit Namens­liste geschlossen worden, wird nach § 125 Abs. 1 Nr. 1 Insol­venz­ordnung vermutet, dass die Kündigung der aufge­lis­teten Arbeit­nehmer durch dringende betrieb­liche Erfor­der­nisse im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG  bedingt ist (Vermu­tungs­wirkung). Dabei muss sich die Betriebs­än­derung zum Zeitpunkt des Abschlusses des Inter­es­sens­aus­gleichs noch in der Planungs­phase befinden, damit der Betriebsrat noch Einfluss auf die unter­neh­me­rische Entscheidung ausüben kann.

(Bundes­ar­beits­ge­richt, Urteil vom 17. August 2023 – 6 AZR 56/23 –)

Das Bundes­ar­beits­ge­richt hatte sich hier mit der Frage zu beschäf­tigen, wie konkret die Änderungs­pläne – in diesem Fall Pläne zur Betriebs­still­legung – fortge­schritten sein müssen, damit die gesetz­liche Vermu­tungs­wirkung dringender betrieb­licher Erfor­der­nisse als Kündigung gelte.

 

Die Grundlagen

 

§ 125 Abs.1 InsO (Vermutungswirkung)

Absatz 1) Ist eine Betriebs­än­derung (§ 111 des Betriebs­ver­fas­sungs­ge­setzes) geplant und kommt zwischen Insol­venz­ver­walter und Betriebsrat ein Inter­es­sen­aus­gleich zustande, in dem die Arbeit­nehmer, denen gekündigt werden soll, namentlich bezeichnet sind, so ist § 1 des Kündi­gungs­schutz­ge­setzes mit folgenden Maßgaben anzuwenden:

1. es wird vermutet, daß die Kündigung der Arbeits­ver­hält­nisse der bezeich­neten Arbeit­nehmer durch dringende betrieb­liche Erfor­der­nisse, die einer Weiter­be­schäf­tigung in diesem Betrieb oder einer Weiter­be­schäf­tigung zu unver­än­derten Arbeits­be­din­gungen entge­gen­stehen, bedingt ist;

 

Betriebsänderung § 111 BetrVG

Eine Betriebs­än­derung kann vorliegen, wenn der Arbeit­geber wesent­liche Änderungen der betrieb­lichen Organi­sation, des Tätig­keits­be­reichs, der Betriebs­an­lagen, des Arbeits­ab­laufs oder auch des Arbeits­stand­ortes vornimmt. Das können beispiels­weise auch eine Betriebs­stil­legung, eine Teilstil­legung, eine Zusam­men­legung oder eine Betriebs­ver­legung sowie die Einführung grund­legend neuer Arbeits­me­thoden sein.

Der Betriebsrat muss über geplante Verän­de­rungen, die wesent­liche Nachteile für die Beleg­schaft entfalten können, unter­richtet werden. 

 

Interessensausgleich mit Namensliste

Ein Inter­es­sens­aus­gleich wird wegen einer bestimmten Betriebs­än­derung im Sinne des § 111 BetrVG abgeschlossen. Der Arbeit­geber verhandelt mit dem Betriebsrat ob eine Betriebs­än­derung durch­ge­führt werden muss und über die Art, den Umfang, den Zeitpunkt und den Ablauf der geplanten Änderungen. Der Betriebsrat kann beispiels­weise darauf hinwirken, dass sich die Entlas­sungen auf bestimmte Arbeit­nehmer beschränken, dass es Umschu­lungs­maß­nahmen, Änderungs­kün­di­gungen oder Aufhe­bungs­ver­träge anstelle von Beendi­gungs­kün­di­gungen gibt. Auch die Möglichkeit alter­na­tiver Produktion kann erörtert werden. Der Betriebsrat verhandelt, um die im Allge­meinen für die Beleg­schaft nachtei­ligen Wirkungen der Betriebs­än­derung abzumildern oder günsti­gen­falls zu vermeiden. Ein Inter­es­sens­aus­gleich ist nicht mit einem Sozialplan identisch.

Beinhalten diese Maßnahmen der Betriebs­än­derung Kündi­gungen, können sich Arbeit­geber und Betriebsrat auf namentlich genannte Arbeit­nehmer, die von der Betriebs­än­derung betroffen sind und deren Arbeits­ver­hältnis beendet werden soll einigen. Diese Namen werden dann in einer oder mehreren Listen festgehalten.

 

Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte

Nach § 168 SGB IX genießen Schwer­be­hin­derte Menschen und gleich­ge­stellte behin­derte Menschen einen beson­deren Kündigungsschutz.

Möchte der Arbeit­geber einem Schwer­be­hin­derten Menschen oder einer gleich­ge­stellten Person den Arbeits­vertrag kündigen, muss er zuvor die Zustimmung des zustän­digen Integra­ti­ons­amtes – in Berlin beispiels­weise das Inklu­si­onsamt Berlin – beantragen. Dieses prüft dann, ob die Kündigung mit der Behin­derung im Zusam­menhang steht oder nicht. Erst wenn die Behörde zustimmt, kann der Arbeit­geber die Kündigung aussprechen. Eine fehlende Zustimmung kann nicht nachgeholt werden.

Als „schwer­be­hindert“ gelten nach § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen, bei denen ein Grad der Behin­derung von 50 oder mehr anerkannt wurde. Als „gleich­ge­stellt“ gelten Personen, deren Grad der Behin­derung weniger als 50 aber mindestens 30 beträgt.

Für die Schutz­wirkung des Sonder­kün­di­gungs­schutzes genügt es, wenn der Antrag auf Anerkennung als Schwer­be­hin­derter drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt ist.

(Infor­ma­tionen zu Sonder­kün­di­gungs­schutz für Schwangere und Eltern in Elternzeit finden Sie hier.)

 

Zum Fall

 

Der Sachverhalt

Der klagende Arbeit­nehmer war bei einem Unter­nehmen angestellt, dass Spezi­al­profile aus Stahl und Stahl­er­zeug­nisse vertrieb und herstellte. Es waren ca. 400 Arbeit­nehmer beschäftigt.

Die Arbeit­ge­berin musste Insolvenz anmelden. Es wurde ein Insol­venz­ver­walter eingesetzt.

Wegen einer geplanten Betriebs­stil­legung schlossen der Insol­venz­ver­walter und der bei der Insol­venz­schuld­nerin gebildete Betriebsrat  am 29.06.2020 einen Inter­es­sens­aus­gleich. Es gab drei verschiedene Namens­listen, die zusammen sämtliche Mitar­beiter der Insol­venz­schuld­nerin enthielten. Der klagende Arbeit­nehmer war auf der zweiten Liste genannt.

Der Insol­venz­ver­walter kündigte mit Schreiben vom 29.6.2020 nach der Unter­zeichnung des Inter­es­sens­aus­gleichs und der Anzeige der Massen­ent­lassung bei der Agentur für Arbeit sämtlichen Arbeit­nehmern das Arbeits­ver­hältnis, auch das des Klägers, wegen dringender betrieb­licher Erfor­der­nisse zum 31. Mai 2021. Der Kläger legte dagegen Kündi­gungs­schutz­klage ein. Er war der Ansicht der Betrieb, insbe­sondere die Produktion liefen weiter. Es würde mit Inter­es­senten über den Verkauf von Betriebs­teilen verhandelt. Die Kündi­gungen seien nur „auf Vorrat“, falls diese Veräu­ße­rungen fehlschlügen. Zudem gab er bekannt, am 26.5.2020 einen Grad der Schwer­be­hin­derung beantragt zu haben. Daraufhin holte der Insol­venz­ver­walter bei der zustän­digen Behörde zunächst deren Zustimmung zur Kündigung ein und kündigte das Arbeits­ver­hältnis dann vorsorglich erneut mit Schreiben vom 20.8.2020 zum 31. Mai 2021. (Die Feststellung der Schwer­be­hin­derung wurde übrigens durch das Integra­ti­onsamt abgelehnt.)

 

unterschiedliche Urteile der Vorinstanzen bezüglich der Vermutungswirkung

Das Arbeits­ge­richt Dortmund sah die Kündi­gungen wegen der Vermu­tungs­wirkung des § 125 InsO als sozial gerecht­fertigt an und wies die Klage als unbegründet ab. (Urteil vom 13. April 2021, 5 Ca 2825/20) Das Landes­ar­beits­ge­richt Hamm (Urteil vom 13. Januar 2023, 16 Sa 485/21) sah die Kündi­gungen hingegen als unwirksam an. Die Vermu­tungs­wirkung der sozialen Recht­fer­tigung aus § 125 InsO komme nur dann zum  Tragen, wenn die ernsthaft geplante Betriebs­än­derung und der Inter­es­sens­aus­gleich dargelegt und gegebe­nen­falls bewiesen wären. Die in Still­le­gungs­ab­sicht getrof­fenen Maßnahmen müssten bereits „greifbare Form“ angenommen haben.

 

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes zur Vermutungswirkung des § 125 InsO

Das Bundes­ar­beits­ge­richt gab jedoch dem Kläger auf dessen einge­legte Revision Recht.

Das Arbeits­ver­hältnis sei wirksam zum 31.5.2021 beendet worden. Die zweite Kündigung vom 20.8.2020 entfalte keinen beson­deren Sonder­kün­di­gungs­schutz infolge einer Schwer­be­hin­derung. Die Kündigung vom 29.6.2020 sei aufgrund der Vermutung aus § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO, dass die Kündigung durch dringende betrieb­liche Erfor­der­nisse bedingt sei, wirksam.

Der Arbeit­geber müsse nur hinrei­chend darlegen, dass die der Kündigung zugrun­de­lie­gende Betriebs­än­derung gemäß § 125 InsO geplant war. Da der Beklagte dies hier getan habe,  müsse der Arbeit­nehmer die diesbe­züg­liche Vermu­tungs­wirkung wider­legen. Dies sei hier nicht erfolgt.

 

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