Kein generelles Verwertungsverbot bei offener Videoüberwachung

Kein generelles Verwertungsverbot bei offener Videoüberwachung

6. Juli 2023 Allgemein 0

In einem Kündi­gungs­schutz­prozess besteht grund­sätzlich kein Verwer­tungs­verbot in Bezug auf solche Aufzeich­nungen aus einer offenen Video­über­wa­chung, die vorsätzlich vertrags­wid­riges Verhalten des Arbeit­nehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwa­chungs­maß­nahme des Arbeit­gebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Daten­schutz­rechtes steht.

(Bundes­ar­beits­ge­richt, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22 –)

Als Kanzlei für Arbeits­recht beschäf­tigen wir uns natürlich auch regel­mäßig mit Fragen der Beweis­ver­wertung. Das Bundes­ar­beits­ge­richt hat vorliegend in einem Fall entschieden, in der es um die Frage ging, ob eine Video­auf­zeichnung als Beweis verwertet werden darf, wenn es um den Vorwurf eines Arbeits­zeit­be­truges eines Arbeit­nehmers geht.

 

Die Grundlagen

 

Arbeitszeitbetrug

Wenn ein Arbeit­nehmer bewusst vorgibt, seine Arbeits­leistung erbracht zu haben, sie tatsächlich aber nicht geleistet hat, kann ein sogenannter Arbeits­zeit­betrug vorliegen.

Ein klassi­sches Beispiel dafür ist der Missbrauch einer Stempeluhr (Einstempeln und dann gleich wieder gehen). Wenn technische Mittel der Arbeits­zeit­er­fassung missbraucht werden, um nicht geleistete Arbeit vorzu­spiegeln kann dies das Vertrau­ens­ver­hältnis zwischen Arbeit­geber und Arbeit­nehmer dermaßen erschüttern, dass dies eine Kündigung, auch eine fristlose, recht­fer­tigen kann. (Mehr zur frist­losen Kündigung können Sie hier lesen.)

Zudem ist der Arbeits­zeit­betrug auch eine Form des Betruges und fällt unter den § 269 des Straf­ge­setz­buches.  Auch wegen einer began­genen Straftat zulasten des Arbeit­gebers oder zumindest einem diesbe­züg­lichen Verdacht, kann eine Kündigung begründet sein.

 

Verwertungsverbot

Das Bundes­ar­beits­ge­richt unter­scheidet zwischen Sachvor­trags­ver­wer­tungs­ver­boten und Beweis­ver­wer­tungs­ver­boten. Ein Sachvor­trags­ver­wer­tungs­verbot würde bewirken, dass ein Vortrag des Arbeit­gebers, den der Arbeit­nehmer nicht bestritten hat, dennoch als bestritten zu behandeln ist und damit bewiesen werden muss. Der Vortrag bleibt „beweis­fällig“. (BAG, – 2 AZR 133/18). Ein Beweis­ver­wer­tungs­verbot untersagt, dass eine Erkenntnis, die aus einem bestimmten Beweis­mittel gewonnen wurde, heran­ge­zogen werden darf, um eine Tatsache zu beweisen.

Die Verwert­barkeit von Video­auf­zeich­nungen zu Beweis­zwecken ist sehr umstritten. Das Bundes­ar­beits­ge­richt sieht weder in der Zivil­pro­zess­ordnung noch im Arbeits­ge­richts­gesetz eine Vorschrift zur prozes­sualen Verwert­barkeit rechts­widrig erlangter Erkennt­nisse oder Beweise. Nach dem Grundsatz der freien Beweis­wür­digung und dem Anspruch auf recht­liches Gehör müssten grund­sätzlich angebotene Sachvor­träge und Beweis­mittel der Parteien berück­sichtigt werden. Ein Verwer­tungs­verbot bedürfe einer gesetz­lichen Grundlage. Im Bundes­da­ten­schutz­gesetz sieht das Bundes­ar­beits­ge­richt keine Grundlage für ein Verwer­tungs­verbot. (BAG, 2 AZR 848/15)

Im vorlie­genden Fall wurde dem Arbeit­nehmer ein Arbeits­zeit­betrug vorge­worfen. Das Bundes­ar­beits­ge­richt hat schon früher entschieden, dass Video­auf­zeich­nungen keinem Beweis­ver­wer­tungs­verbot unter­liegen, wenn es um den Nachweis von Pflicht­ver­let­zungen oder Straf­taten geht. (BAG, 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 –; BAG, 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16)

 

Zum Fall:

Einem als Teamsprecher in einer Gießerei beschäf­tigten Arbeit­nehmer wurde von seiner Arbeit­ge­berin vorge­worfen, im Juni  2018 eine sogenannte Mehrar­beits­schicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie dennoch vergütet zu bekommen.

Der Arbeit­nehmer gab selbst an, das Werks­ge­lände an diesem Tag betreten zu haben. Die Arbeit­ge­berin führte aber an, das sie – ein Jahr später – einen anonymen Hinweis bekommen habe, der Arbeit­nehmer habe das Gelände vor Schicht­beginn wieder verlassen.

Solche Vorfälle ereig­neten sich auch noch an sechs weiteren Tagen im Oktober 2018 und April 2019.

Die Arbeit­ge­berin kündigte das Arbeits­ver­hältnis deswegen außer­or­dentlich, hilfs­weise ordentlich. Der Arbeit­nehmer legte dagegen Kündi­gungs­schutz­klage ein und machte geltend, er habe an den besagten Tagen gearbeitet.

 

So verlief der Prozess

Das Arbeits­ge­richt gab seiner Klage statt.

Die Beklagte legte Berufung ein. Im Verlaufe des Berufungs­ver­fahrens legte die Beklagte im November 2021 einen Daten­träger mit der Aufzeichnung einer Video­kamera an einem Tor zum Werks­ge­lände vom Juni 2018 vor.  Die Auswertung dieser Aufzeichnung habe ergeben, dass der Arbeit­nehmer das Gelände noch vor Schicht­beginn wieder verlassen habe. Die Kamera sei durch ein Pikto­gramm ausge­wiesen und nicht zu übersehen.

Der Kläger wandte dagegen ein, die Auswertung der Video­über­wa­chung unterläge einem Sach‐ und Beweis­ver­wer­tungs­verbot und dürfte nicht berück­sichtigt werden. Zudem habe der Betriebsrat keine Kenntnis davon, dass die Video­auf­zeichnung der Überwa­chung der Mitar­beiter diene. Auch dürften die Videos nicht so lange gespei­chert werden. Das Landes­ar­beits­ge­richt unter­stellte mangels gegen­tei­ligen Beweises der Beklagten, dass die Arbeit­ge­berin sich zu einer freiwil­ligen Speicher­frist von 96 Stunden verpflichtet hatte.

Das Landes­ar­beits­ge­richt gab dem Kläger recht. Unter anderem sei eine Kontrolle von Arbeits­zeiten durch eine  Video­über­wa­chungs­anlage weder geeignet noch erfor­derlich. Der Zugriff auf die Video­auf­zeich­nungen, die mehr als ein Jahr zurück­lägen, sei regel­mäßig nicht angemessen und unter­lägen einem Sachvortrags‐ und Beweis­ver­wer­tungs­verbot. Es berück­sich­tigte die Video­auf­zeichnung in seiner Entscheidung nicht. (Landes­ar­beits­ge­richt Nieder­sachsen, 6. Juli 2022 – 8 Sa 1149/20 –)

 

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes zum Verwertungsverbot

Das Bundes­ar­beits­ge­richt sah dies anders und gab der Revision der Beklagten statt. Es verwies den Rechts­streit an das Landes­ar­beits­ge­richt zurück. Das Vorbringen der Beklagten zum Verlassen des Werks­ge­ländes durch den Kläger sei zugrunde zu legen und die Bildse­quenz der Video­über­wa­chung am Tor des Werks­ge­ländes sein in Augen­schein zu nehmen. Dies folge aus den Vorschriften des Unions­rechts und Verfahrensrechts.

Es spiele dabei keine Rolle, ob die Überwa­chung in jeder Hinsicht der Daten­schutz­grund­ver­ordnung (DSGVO) bzw. dem Bundes­da­ten­schutz­gesetz entspräche.

Wenn die Daten­er­hebung offen erfolge und es um vorsätz­liches, vertrags­wid­riges Verhalten des Arbeit­nehmers gehe, sei eine Verar­beitung der perso­nen­be­zo­genen Daten des Klägers durch Gerichte für Arbeits­sachen nach der DSGVO nicht ausgeschlossen.

Es sei auch grund­sätzlich irrelevant, wie lange ein Arbeit­geber mit der erstma­ligen Einsicht­nahme in das Bildma­terial abwarte.

Das Bundes­ar­beits­ge­richt ließ es offen, ob ein Verwer­tungs­verbot in Bezug auf vorsätz­liche Pflicht­ver­stöße ausnahms­weise in Betracht käme, wenn die offene Überwa­chungs­maß­nahme eine schwer­wie­gende Grund­rechts­ver­letzung darstelle. Diese läge hier nämlich nicht vor.

 

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