Kein generelles Verwertungsverbot bei offener Videoüberwachung
In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechtes steht.
Als Kanzlei für Arbeitsrecht beschäftigen wir uns natürlich auch regelmäßig mit Fragen der Beweisverwertung. Das Bundesarbeitsgericht hat vorliegend in einem Fall entschieden, in der es um die Frage ging, ob eine Videoaufzeichnung als Beweis verwertet werden darf, wenn es um den Vorwurf eines Arbeitszeitbetruges eines Arbeitnehmers geht.
Die Grundlagen
Arbeitszeitbetrug
Wenn ein Arbeitnehmer bewusst vorgibt, seine Arbeitsleistung erbracht zu haben, sie tatsächlich aber nicht geleistet hat, kann ein sogenannter Arbeitszeitbetrug vorliegen.
Ein klassisches Beispiel dafür ist der Missbrauch einer Stempeluhr (Einstempeln und dann gleich wieder gehen). Wenn technische Mittel der Arbeitszeiterfassung missbraucht werden, um nicht geleistete Arbeit vorzuspiegeln kann dies das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer dermaßen erschüttern, dass dies eine Kündigung, auch eine fristlose, rechtfertigen kann. (Mehr zur fristlosen Kündigung können Sie hier lesen.)
Zudem ist der Arbeitszeitbetrug auch eine Form des Betruges und fällt unter den § 269 des Strafgesetzbuches. Auch wegen einer begangenen Straftat zulasten des Arbeitgebers oder zumindest einem diesbezüglichen Verdacht, kann eine Kündigung begründet sein.
Verwertungsverbot
Das Bundesarbeitsgericht unterscheidet zwischen Sachvortragsverwertungsverboten und Beweisverwertungsverboten. Ein Sachvortragsverwertungsverbot würde bewirken, dass ein Vortrag des Arbeitgebers, den der Arbeitnehmer nicht bestritten hat, dennoch als bestritten zu behandeln ist und damit bewiesen werden muss. Der Vortrag bleibt „beweisfällig“. (BAG, – 2 AZR 133/18). Ein Beweisverwertungsverbot untersagt, dass eine Erkenntnis, die aus einem bestimmten Beweismittel gewonnen wurde, herangezogen werden darf, um eine Tatsache zu beweisen.
Die Verwertbarkeit von Videoaufzeichnungen zu Beweiszwecken ist sehr umstritten. Das Bundesarbeitsgericht sieht weder in der Zivilprozessordnung noch im Arbeitsgerichtsgesetz eine Vorschrift zur prozessualen Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Erkenntnisse oder Beweise. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung und dem Anspruch auf rechtliches Gehör müssten grundsätzlich angebotene Sachvorträge und Beweismittel der Parteien berücksichtigt werden. Ein Verwertungsverbot bedürfe einer gesetzlichen Grundlage. Im Bundesdatenschutzgesetz sieht das Bundesarbeitsgericht keine Grundlage für ein Verwertungsverbot. (BAG, 2 AZR 848/15)
Im vorliegenden Fall wurde dem Arbeitnehmer ein Arbeitszeitbetrug vorgeworfen. Das Bundesarbeitsgericht hat schon früher entschieden, dass Videoaufzeichnungen keinem Beweisverwertungsverbot unterliegen, wenn es um den Nachweis von Pflichtverletzungen oder Straftaten geht. (BAG, 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 –; BAG, 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16)
Zum Fall:
Einem als Teamsprecher in einer Gießerei beschäftigten Arbeitnehmer wurde von seiner Arbeitgeberin vorgeworfen, im Juni 2018 eine sogenannte Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie dennoch vergütet zu bekommen.
Der Arbeitnehmer gab selbst an, das Werksgelände an diesem Tag betreten zu haben. Die Arbeitgeberin führte aber an, das sie – ein Jahr später – einen anonymen Hinweis bekommen habe, der Arbeitnehmer habe das Gelände vor Schichtbeginn wieder verlassen.
Solche Vorfälle ereigneten sich auch noch an sechs weiteren Tagen im Oktober 2018 und April 2019.
Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis deswegen außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Der Arbeitnehmer legte dagegen Kündigungsschutzklage ein und machte geltend, er habe an den besagten Tagen gearbeitet.
So verlief der Prozess
Das Arbeitsgericht gab seiner Klage statt.
Die Beklagte legte Berufung ein. Im Verlaufe des Berufungsverfahrens legte die Beklagte im November 2021 einen Datenträger mit der Aufzeichnung einer Videokamera an einem Tor zum Werksgelände vom Juni 2018 vor. Die Auswertung dieser Aufzeichnung habe ergeben, dass der Arbeitnehmer das Gelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen habe. Die Kamera sei durch ein Piktogramm ausgewiesen und nicht zu übersehen.
Der Kläger wandte dagegen ein, die Auswertung der Videoüberwachung unterläge einem Sach‐ und Beweisverwertungsverbot und dürfte nicht berücksichtigt werden. Zudem habe der Betriebsrat keine Kenntnis davon, dass die Videoaufzeichnung der Überwachung der Mitarbeiter diene. Auch dürften die Videos nicht so lange gespeichert werden. Das Landesarbeitsgericht unterstellte mangels gegenteiligen Beweises der Beklagten, dass die Arbeitgeberin sich zu einer freiwilligen Speicherfrist von 96 Stunden verpflichtet hatte.
Das Landesarbeitsgericht gab dem Kläger recht. Unter anderem sei eine Kontrolle von Arbeitszeiten durch eine Videoüberwachungsanlage weder geeignet noch erforderlich. Der Zugriff auf die Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurücklägen, sei regelmäßig nicht angemessen und unterlägen einem Sachvortrags‐ und Beweisverwertungsverbot. Es berücksichtigte die Videoaufzeichnung in seiner Entscheidung nicht. (Landesarbeitsgericht Niedersachsen, 6. Juli 2022 – 8 Sa 1149/20 –)
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes zum Verwertungsverbot
Das Bundesarbeitsgericht sah dies anders und gab der Revision der Beklagten statt. Es verwies den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurück. Das Vorbringen der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger sei zugrunde zu legen und die Bildsequenz der Videoüberwachung am Tor des Werksgeländes sein in Augenschein zu nehmen. Dies folge aus den Vorschriften des Unionsrechts und Verfahrensrechts.
Es spiele dabei keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) bzw. dem Bundesdatenschutzgesetz entspräche.
Wenn die Datenerhebung offen erfolge und es um vorsätzliches, vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers gehe, sei eine Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers durch Gerichte für Arbeitssachen nach der DSGVO nicht ausgeschlossen.
Es sei auch grundsätzlich irrelevant, wie lange ein Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial abwarte.
Das Bundesarbeitsgericht ließ es offen, ob ein Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliche Pflichtverstöße ausnahmsweise in Betracht käme, wenn die offene Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstelle. Diese läge hier nämlich nicht vor.