Vermutungswirkung § 125 InsO bei geplanter Betriebsänderung
Ist bei einer geplanten Betriebsänderung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat ein Interessensausgleich mit Namensliste geschlossen worden, wird nach § 125 Abs. 1 Nr. 1 Insolvenzordnung vermutet, dass die Kündigung der aufgelisteten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG bedingt ist (Vermutungswirkung). Dabei muss sich die Betriebsänderung zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessensausgleichs noch in der Planungsphase befinden, damit der Betriebsrat noch Einfluss auf die unternehmerische Entscheidung ausüben kann.
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Das Bundesarbeitsgericht hatte sich hier mit der Frage zu beschäftigen, wie konkret die Änderungspläne – in diesem Fall Pläne zur Betriebsstilllegung – fortgeschritten sein müssen, damit die gesetzliche Vermutungswirkung dringender betrieblicher Erfordernisse als Kündigung gelte.
Die Grundlagen
§ 125 Abs.1 InsO (Vermutungswirkung)
Absatz 1) Ist eine Betriebsänderung (§ 111 des Betriebsverfassungsgesetzes) geplant und kommt zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat ein Interessenausgleich zustande, in dem die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, namentlich bezeichnet sind, so ist § 1 des Kündigungsschutzgesetzes mit folgenden Maßgaben anzuwenden:
1. es wird vermutet, daß die Kündigung der Arbeitsverhältnisse der bezeichneten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist;
Betriebsänderung § 111 BetrVG
Eine Betriebsänderung kann vorliegen, wenn der Arbeitgeber wesentliche Änderungen der betrieblichen Organisation, des Tätigkeitsbereichs, der Betriebsanlagen, des Arbeitsablaufs oder auch des Arbeitsstandortes vornimmt. Das können beispielsweise auch eine Betriebsstillegung, eine Teilstillegung, eine Zusammenlegung oder eine Betriebsverlegung sowie die Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden sein.
Der Betriebsrat muss über geplante Veränderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft entfalten können, unterrichtet werden.
Interessensausgleich mit Namensliste
Ein Interessensausgleich wird wegen einer bestimmten Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG abgeschlossen. Der Arbeitgeber verhandelt mit dem Betriebsrat ob eine Betriebsänderung durchgeführt werden muss und über die Art, den Umfang, den Zeitpunkt und den Ablauf der geplanten Änderungen. Der Betriebsrat kann beispielsweise darauf hinwirken, dass sich die Entlassungen auf bestimmte Arbeitnehmer beschränken, dass es Umschulungsmaßnahmen, Änderungskündigungen oder Aufhebungsverträge anstelle von Beendigungskündigungen gibt. Auch die Möglichkeit alternativer Produktion kann erörtert werden. Der Betriebsrat verhandelt, um die im Allgemeinen für die Belegschaft nachteiligen Wirkungen der Betriebsänderung abzumildern oder günstigenfalls zu vermeiden. Ein Interessensausgleich ist nicht mit einem Sozialplan identisch.
Beinhalten diese Maßnahmen der Betriebsänderung Kündigungen, können sich Arbeitgeber und Betriebsrat auf namentlich genannte Arbeitnehmer, die von der Betriebsänderung betroffen sind und deren Arbeitsverhältnis beendet werden soll einigen. Diese Namen werden dann in einer oder mehreren Listen festgehalten.
Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte
Nach § 168 SGB IX genießen Schwerbehinderte Menschen und gleichgestellte behinderte Menschen einen besonderen Kündigungsschutz.
Möchte der Arbeitgeber einem Schwerbehinderten Menschen oder einer gleichgestellten Person den Arbeitsvertrag kündigen, muss er zuvor die Zustimmung des zuständigen Integrationsamtes – in Berlin beispielsweise das Inklusionsamt Berlin – beantragen. Dieses prüft dann, ob die Kündigung mit der Behinderung im Zusammenhang steht oder nicht. Erst wenn die Behörde zustimmt, kann der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen. Eine fehlende Zustimmung kann nicht nachgeholt werden.
Als „schwerbehindert“ gelten nach § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen, bei denen ein Grad der Behinderung von 50 oder mehr anerkannt wurde. Als „gleichgestellt“ gelten Personen, deren Grad der Behinderung weniger als 50 aber mindestens 30 beträgt.
Für die Schutzwirkung des Sonderkündigungsschutzes genügt es, wenn der Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt ist.
(Informationen zu Sonderkündigungsschutz für Schwangere und Eltern in Elternzeit finden Sie hier.)
Zum Fall
Der Sachverhalt
Der klagende Arbeitnehmer war bei einem Unternehmen angestellt, dass Spezialprofile aus Stahl und Stahlerzeugnisse vertrieb und herstellte. Es waren ca. 400 Arbeitnehmer beschäftigt.
Die Arbeitgeberin musste Insolvenz anmelden. Es wurde ein Insolvenzverwalter eingesetzt.
Wegen einer geplanten Betriebsstillegung schlossen der Insolvenzverwalter und der bei der Insolvenzschuldnerin gebildete Betriebsrat am 29.06.2020 einen Interessensausgleich. Es gab drei verschiedene Namenslisten, die zusammen sämtliche Mitarbeiter der Insolvenzschuldnerin enthielten. Der klagende Arbeitnehmer war auf der zweiten Liste genannt.
Der Insolvenzverwalter kündigte mit Schreiben vom 29.6.2020 nach der Unterzeichnung des Interessensausgleichs und der Anzeige der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit sämtlichen Arbeitnehmern das Arbeitsverhältnis, auch das des Klägers, wegen dringender betrieblicher Erfordernisse zum 31. Mai 2021. Der Kläger legte dagegen Kündigungsschutzklage ein. Er war der Ansicht der Betrieb, insbesondere die Produktion liefen weiter. Es würde mit Interessenten über den Verkauf von Betriebsteilen verhandelt. Die Kündigungen seien nur „auf Vorrat“, falls diese Veräußerungen fehlschlügen. Zudem gab er bekannt, am 26.5.2020 einen Grad der Schwerbehinderung beantragt zu haben. Daraufhin holte der Insolvenzverwalter bei der zuständigen Behörde zunächst deren Zustimmung zur Kündigung ein und kündigte das Arbeitsverhältnis dann vorsorglich erneut mit Schreiben vom 20.8.2020 zum 31. Mai 2021. (Die Feststellung der Schwerbehinderung wurde übrigens durch das Integrationsamt abgelehnt.)
unterschiedliche Urteile der Vorinstanzen bezüglich der Vermutungswirkung
Das Arbeitsgericht Dortmund sah die Kündigungen wegen der Vermutungswirkung des § 125 InsO als sozial gerechtfertigt an und wies die Klage als unbegründet ab. (Urteil vom 13. April 2021, 5 Ca 2825/20) Das Landesarbeitsgericht Hamm (Urteil vom 13. Januar 2023, 16 Sa 485/21) sah die Kündigungen hingegen als unwirksam an. Die Vermutungswirkung der sozialen Rechtfertigung aus § 125 InsO komme nur dann zum Tragen, wenn die ernsthaft geplante Betriebsänderung und der Interessensausgleich dargelegt und gegebenenfalls bewiesen wären. Die in Stilllegungsabsicht getroffenen Maßnahmen müssten bereits „greifbare Form“ angenommen haben.
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes zur Vermutungswirkung des § 125 InsO
Das Bundesarbeitsgericht gab jedoch dem Kläger auf dessen eingelegte Revision Recht.
Das Arbeitsverhältnis sei wirksam zum 31.5.2021 beendet worden. Die zweite Kündigung vom 20.8.2020 entfalte keinen besonderen Sonderkündigungsschutz infolge einer Schwerbehinderung. Die Kündigung vom 29.6.2020 sei aufgrund der Vermutung aus § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt sei, wirksam.
Der Arbeitgeber müsse nur hinreichend darlegen, dass die der Kündigung zugrundeliegende Betriebsänderung gemäß § 125 InsO geplant war. Da der Beklagte dies hier getan habe, müsse der Arbeitnehmer die diesbezügliche Vermutungswirkung widerlegen. Dies sei hier nicht erfolgt.